Verdingkind
Eduard Blaser (84) kam mit zwölf Jahren ins Heim
25'000 Franken für
ein geraubtes Leben
Tausende Schweizer Kinder wurden bis 1981 in Erziehungsanstalten
traumatisiert. Jetzt erhalten die ersten Opfer eine Entschädigung vom Bund.
Eduard Blaser |
Eduard Blaser wurde fast sein ganzes Leben lang bevormundet. Noch heute hat er
einen
Beistand. Über Geld verfügen oder Entscheidungen selber treffen durfte der
heute
84-Jährige nie.
Die
Geschichte seiner Entmündigung begann vor 72 Jahren. Damals wurde er in die
Beobachtungsstation der Klinik Tschugg bei Erlach BE eingewiesen, weil er die
Schule
geschwänzt hatte und irgendwer behauptete, er habe epileptische Anfälle.
Dabei
litt der Junge bloss an Schwindelanfällen – und unter der strengen Hand des
Lehrers. «In die Klinik Tschugg wurde ich zur Erziehung gebracht», so Blaser.
Was das
in den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts bedeutete, daran
erinnert sich
Eduard Blaser nur allzu deutlich.
«Wer nicht spurte,
wurde in den Bärengraben geworfen»
Am Morgen gingen die Zwölfjährigen zur Schule, am Nachmittag zum Torfstechen ins
Moor – Kohle war damals rationiert, Torf wurde zum Heizen gebraucht. Das war schwere
Arbeit: «Wer nicht spurte», erzählt Blaser, «der wurde in den Bärengraben geworfen.»
Der Bärengraben war natürlich nicht der in Bern – man warf die Kinder in einen Kerker im
Freien, ein Loch im Boden, das von oben mit einem Gitter versperrt war.
Tagelang wurde der kleine Eduard darin bei jedem Wetter gefangen gehalten. «Die Zeit
im Heim war überhaupt nicht schön», sagt er. Weil er dort gewesen ist, wurde Blaser
noch Jahrzehnte später stigmatisiert, unter Vormundschaft gestellt – durfte nie selbst
über sein Leben entscheiden.
Später stempelten ihn die Behörden als «arbeitsscheu» ab und warfen ihn wiederholt ins
Gefängnis. Seine drei Kinder wurden ebenfalls unter Vormundschaft gestellt und in
Heimen untergebracht – darunter auch Eduards Sohn Robert Blaser (60).
Tausende in der Schweiz teilen das Schicksal der Blasers. Sie schlossen sich in
den
90er-Jahren in Vereinen zusammen, um das erlittene Unrecht sichtbar zu machen.
Gemeinsam mit Guido Fluri (51) – der selbst bei Pflegefamilien und in Heimen aufwuchs –
lancierten sie die Wiedergutmachungsinitiative.
90er-Jahren in Vereinen zusammen, um das erlittene Unrecht sichtbar zu machen.
Gemeinsam mit Guido Fluri (51) – der selbst bei Pflegefamilien und in Heimen aufwuchs –
lancierten sie die Wiedergutmachungsinitiative.
«Bis Ende März können Gesuche
eingereicht werden»
Bundesrat und Parlament erkannten die Schuld an, die sich der Staat unter anderem
gegenüber Heim- und Verdingkindern aufgeladen hatte – und beschlossen 2016 das
Bundesgesetz über die Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und
Fremdplatzierungen. Das Gesetz sieht unter anderem eine wissenschaftliche
Aufarbeitung vor – und einen Solidaritätsfonds für Opfer.
Betroffene können direkt beim Bund oder bei kantonalen Anlaufstellen Gesuche um
einen
Beitrag aus diesem Solidaritätsfonds einreichen. Er ist mit maximal 300
Millionen Franken
ausgestattet. Gesuche können noch bis März dieses Jahres eingereicht werden.
Eduard Blaser gehört zu jenen 366 Personen, die vom Bund kurz vor Weihnachten
eingeschriebene Briefe erhielten: «Solidaritätsbeitrag für Opfer
fürsorgerischer
Zwangsmassnahmen – Gutheissung Ihres Gesuchs», lautet die Betreffzeile.
25'000
Franken erhält Eduard Blaser nun im Januar auf sein Konto überwiesen. «Als
Zeichen
der staatlichen Anerkennung des zugefügten Unrechts und zur Wiedergutmachung.»
Für Blaser hat sein Sohn Robert das Gesuch ausgefüllt. Seit kurzem ist er Präsident
des
Vereins FremdPlatziert, auf seiner Internetseite sammelt der Verein alles
Wissen über
dieses finstere Kapitel der Schweizer Geschichte.
Robert Blaser wurde 1964 seinerseits unter Vormundschaft gestellt und im Heim Landorf
Robert Blaser wurde 1964 seinerseits unter Vormundschaft gestellt und im Heim Landorf
bei Köniz
BE untergebracht. «Unter den Kindern herrschte das Faustrecht, auch die
Heimleitung setzte auf Gewalt zur Erziehung», erinnert er sich. Später
kam er in die
Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain im Thurgau. Seine Zeit in Erziehungsheimen
endete
erst mit der Volljährigkeit.
Das Trauma ihrer Jugend wirkt
in ihrer ganzen Existenz fort
Obwohl ihm alle Erzieher prophezeiten, «aus dir wird nie etwas», machte Robert Blaser
eine Anlehre. Er brachte sich vieles selbst bei, erfand sogar eine Vorrichtung zum
Anbringen von Elektroinstallationen, von der er leben kann. Das gab ihm genügend Zeit,
sich für Betroffene einzusetzen, die in ihrer Jugend ein ähnliches Schicksal erlitten
haben: «Oft bringen sie die Kraft nicht auf, ein Unterstützungsgesuch einzureichen», so
Blaser. Das Trauma ihrer Jugend wirkt in ihrer ganzen Existenz fort, viele leben
zurückgezogen, manche verwahrlosen.
Eines der Opfer begleitete Robert Blaser sogar bis zur Post, damit der Betroffene den
gemeinsam verfassten Brief auch wirklich abschickte. «Als der Mann dann ein
paar
Wochen danach von den Behörden gebeten wurde, noch eine Kopie seines
Ausweises
zu schicken, war er ganz ratlos, wusste nicht, ob er überhaupt gültige Papiere
hat.»
Manche Anträge wiesen die kantonalen Stellen sogar zurück. «Eine Frau wurde mit
der
Begründung vertröstet, sie sei ja gar nicht fremdplatziert worden – dabei wurde
sie in
einem Mütterheim geboren», so Blaser.
Die Frau reichte trotzdem ein Gesuch ein. «Doch so eine Auskunft kann dazu führen,
Die Frau reichte trotzdem ein Gesuch ein. «Doch so eine Auskunft kann dazu führen,
dass jemand die Flinte ins Korn wirft und das Gesuch zurückzieht.»
Die schwierigen Lebensumstände von Opfern staatlicher Massnahmen seien
ein
wichtiger Grund, weshalb nur wenige einen Solidaritätsbeitrag beantragt hätten.
Robert
Blaser: «Es wäre darum sehr wichtig, dass Betroffene auch nach der Frist von
Ende März
ein Gesuch einreichen können.»
«Wir haben bisher noch
kein Gesuch ablehnen müssen»
In Bern kümmert sich der Vizedirektor des Bundesamts für Justiz um das Thema. Luzius
Mader (62) ist der sogenannte Delegierte für die Opfer fürsorgerischer
Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Im Gespräch mit SonntagsBlick betont er,
die Hürden zur Einreichung eines Gesuchs seien nicht hoch. «Es reichen eigentlich
Personalien, Unterschrift und Kontonummer. Den Rest können bei Bedarf die kantonalen
Anlaufstellen erledigen, die meist mit den Opferhilfestellen identisch sind.»
Der Bund entscheide dann über den Antrag – «Wir haben bisher noch kein Gesuch
ablehnen müssen», sagt Mader. Roberts Vater Eduard Blaser lebt heute in einem
Altersheim in Aeschi bei Spiez BE. Wegen seiner Herzprobleme ist er häufig müde, lange
Spaziergänge liegen nicht mehr drin. Was er mit dem Geld macht? «Nichts», antwortet
er, «zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen Batzen auf der Seite.»
Publiziert am 07.01.2018 |
Aktualisiert am 07.01.2018 hier weiterlesen
Verdingkind: «mein Leben wurde verpuscht»
Simonetta Sommaruga |
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